Ein alter Baum, so spüre ich mich manches Mal. Fest verwurzelt in der Erde, die Äste himmelwärts, blühend zuweilen und manches Mal Früchte tragend. Den alten Baum betrachte ich als sinngleich mit dem Olivenbaum, der mir der liebste ist und der für mein Empfinden Wärme, Geborgenheit und Weisheit ausstrahlt. Ich mag auch den Ginkgobaum (und alle anderen Bäume), welcher der älteste Baum der Welt sein soll. Diesen empfinde ich aber als eher kühl. Na klar, Ginkgo = Gehirn, Olive = Seele, Emotion, nährend.
Oft denke ich an den uralten Olivenbaum, dem ich vor einigen Jahren am Ölberg in Jerusalem begegnet bin. Er soll 2000 Jahre oder sogar noch älter sein, wie neuere Untersuchungen ergeben haben. Was mag er denken, was hat er gesehen und erlebt, während er – immer den Blick über das Kidrontal hinweg auf die heilige Stadt gerichtet – die Zeit und ihre Begebenheiten geduldig an sich vorüber ziehen ließ?
Er war noch sehr jung, als Männer den Olivenhain betraten, der seit so unendlich langer Zeit seine Heimat ist. Bis auf Einen waren sie alle bald unter den Bäumen eingeschlafen, anstatt hellwach zu sein – wie das halt so ist mit uns Menschen. Der Eine aber wachte und sprach mit seinem Vater. Todesangst ließ ihn erzittern, denn er wusste, was er zu erwarten hatte. Dann kamen Soldaten mit klirrenden Schwertern und martialischem Gehabe und führten ihn ab, während seine Freunde in alle Himmelsrichtungen flüchteten. Später wurden Kreuze an der Richtstätte aufgestellt und der Eine gab seinen Geist auf.
Einige Jahrzehnte später zerstörte die römische Besatzungsmacht den Tempel, welcher Mittelpunkt und geistiger Zusammenhalt für das Volk gewesen war. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte eroberten Sassaniden die Stadt und wurden von den Osmanen vertrieben, dann wechselten Araber, Umayyaden, Abbasiden, Fatimiden, Seldschucken einander ab, alle mehr oder weniger blutig, meistens aber mehr. Schließlich betraten die ersten christkatholischen Kreuzfahrer mit ihren Schwertern die heilige Stadt und tauften sie gleich am ersten Tag mit dem Blut von 3000 arabischen und jüdischen Einwohnern. Tausende Kreuzfahrer folgten, die unzählige Ermordete hinterließen. Man erzählt, dass Ströme von Blut in den Straßen geflossen seien. Später kamen noch einmal die Osmanen und dann die Briten. Diese spielten ein doppeltes Spiel, indem sie das Land sowohl den Juden als auch den Arabern versprachen. Und als es ungemütlich wurde, machten sich die Besatzer aus dem Staub. Gleich am Tag der Staatsgründung gab es Krieg, dann noch einen, der sechs Tage dauerte, dem bis heute Unruhen und gegenseitige Provokationen folgen sollten.
Friedliche, gelassene Zeiten hatte die heilige Stadt selten. Jerusalem – mehr als eine Stadt, Sinnbild für den Zustand der Welt und dafür, was Menschen einander antun. Der alte Olivenbaum aber, er hat wohl nie preisgegeben, was er über uns Menschen denkt. Ich möchte mir das aber auch gar nicht vorstellen, den ich würde wahrscheinlich vor Scham im heiligen Boden versinken.