Loslassen – muss das sein?

Wenn mir früher jemand wohlmeinend, aber mit einer gewissen psycho-esoterischen Herablassung auf die Schulter klopfte: „Na dann lass halt looos!“, dann wäre ich am liebsten auf den nächsten Baum gesprungen. Der Begriff „loslassen“, ausgelutscht und nervig. Aber der Inhalt ist nicht ohne. Ich werde den Begriff, auch wenn ich ihn nicht mag, hier verwenden, weil jeder weiß, was damit gemeint ist. Es ist eine Sache, die uns alle, also wirklich alle, betrifft.

Wovon sollten wir denn loslassen? Meistens sind es Begebenheiten aus der Vergangenheit  –  Glück und Leid von gestern, das uns fest hält, oft mit vermeintlicher Schuld verbunden oder mit dem Gefühl, Opfer zu sein. Alte Strukturen, an denen wir hängen, die aber längst nicht mehr zu uns passen, wollen losgelassen werden. Menschen, mit denen uns nichts oder nichts mehr verbindet, die uns nicht gut tun und die nicht mehr in unser Leben gehören, sollten verabschiedet werden, auch aus unserem Innenleben. Klar, aber freundlich, versteht sich. Das Loslassen betrifft aber z.B. auch die Idee, der Erleuchtung hinterher jagen zu müssen. Ein Hindernis auf dem Weg, denn es geschieht doch alles zu seiner Zeit.

Wir entziehen mit dem Loslassen wollen den Dingen nicht Energie, sondern ganz im Gegenteil füttern wir sie damit. Das erinnert an den rosaroten Elefanten. Ich habe für mich einen Weg gefunden, den ich das „Loslassen vom Loslassen“ nenne. Ein Thema, das ich nicht mehr in meinem Leben, nicht mehr in meinem System haben will, versuche ich kurz und ehrlich zu betrachten. Dann übergebe ich es dem Universum, dem Hohen Selbst, Gott oder wie immer man diese innere Instanz nennen möchte. Man kann das auch mit einem Ritual (z.B. Feuer oder Wasser) machen. Danach lege ich es beiseite, gebe ihm keine Gedanken, also keine Energie mehr, indem ich mich mit anderen Angelegenheiten beschäftige. Oft bemerke ich Wochen oder Monate später zufällig, dass das alte Thema keines mehr ist. Zugegeben, es funktioniert nicht immer, aber meistens.
Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es wahrscheinlich an mir liegt, wenn es einmal nicht klappt, denn dann will ich mich von dem „corpus delicti“ vielleicht nicht wirklich trennen. Ein Bild für das Loslassen von altem Kram ist der Ballon, der Ballast abwerfen muss, um aufsteigen zu können.

Ein Rückblick in die Vergangenheit ermöglicht oftmals die Erkenntnis, dass Gewesenes, auch wenn es sich damals nicht gut angefühlt hat  – wir mögen es vielleicht sogar als Katastrophe, als Schicksalsschlag empfunden haben  – letztendlich doch gut und richtig war. Es hat uns auf einen anderen Weg, als den gewünschten gebracht, der sich später als der bessere erwiesen hat.
Eine Vorstufe zum Loslassen ist das Einverstanden sein. Indem ich in der Lage bin, einverstanden zu sein mit dem was war und ist, gibt es eigentlich nichts mehr, das losgelassen werden müsste. Einverstanden sein mit allem was ist kann man aber nur, wenn man ein tiefes Vertrauen ins Leben entwickelt hat.

Das Anhaften an Vergangenem, Gegenwärtigem und vermeintlich Zukünftigem schafft Leid, von dem unsere Welt übervoll ist. Eines Tages werden wir sowieso alles loslassen müssen, unseren physischen Körper, materielle Anhäufungen und geliebte Menschen. Der Versuch, das Leben, das nur im Jetzt stattfindet und das sich ständig verändert und ununterbrochen in Bewegung ist, zu lieben, zu feiern und es wirklich zu leben mit allen Sinnen und mit allem, was es mit sich bringen mag, aber ohne daran zu hängen und es festhalten zu wollen, ich glaube, dass das sowohl ein gutes Rezept ist, als auch ein immer währendes Übungsfeld.

Kabir, ein indischer Mystiker des 15. Jahrhunderts: „Wenn du deine Fesseln nicht durchtrennst, solange du am Leben bist, meinst du dann, dass irgendwelche Geister dies später für dich erledigen werden?“