Die Reise des Helden 2. Teil

Da sie mir von allen Darstellungen unserer Heldenreise am vertrautesten ist, möchte ich sie kurz am Beispiel der Gralslegende erläutern. Der Gralsweg ist der keltisch-urchristliche (Helden-)Weg, in dem das alte Keltentum mit dem ursprünglichen Christentum eine wunderbare Symbiose eingeht.
Parzival, der Hauptakteur der Artus-Sage und Sinnbild für den Reisenden, beginnt seine Wanderung im Narrenkostüm (der Narr als Archetyp des Helden), in das ihn seine Mutter steckt, um ihn zu schützen, da er „einfältig“ und naiv ist. Der Weg endet für ihn als „bester Ritter der Welt“. Er sucht und findet nach vielen Irrfahrten die Gralsburg, die das Heiligtum birgt und schließlich wird er zum Gralskönig, der unter seiner Rüstung immer noch das Narrengewand trägt. Jetzt aber kleidet es ihn als „reiner Tor“, was an das Bibelzitat erinnert: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“
Zwischen diesen beiden Polen erlebt unser suchender Freund viele Abenteuer nach dem erwähnten archetypischen Muster. Er scheitert, fällt, steht wieder auf und begegnet anderen Rittern, die Ausdruck unserer verschiedenen Lebens- und Entwicklungsprozesse sind. Parzival begegnet also immer wieder sich selbst in vielerlei Gestalt und sein Weg beschreibt die Schwierigkeiten, die wir Menschen zu meistern haben.
Richard Wagner dichtete in seiner Oper „Lohengrin“: „In fernem Land, unnahbar euren Schritten, steht eine Burg, die Montsalvat genannt. Ein lichter Tempel steht dort inmitten…“ Ich möchte den Text abwandeln: „In fernem Land, doch nah bei euren Schritten…“ Denn den Gral, der Symbol für das göttliche Ziel ist, wird man nicht außerhalb von sich finden. Er ist also ganz nah, näher als alles andere.

Nun gibt es ein System, das nicht auf den ersten Blick unmittelbar als heldische Seelenreise erkennbar ist, denn es beschreibt den Weg nicht am Beispiel von Personen, sondern repräsentiert dessen tiefen Inhalt und Sinn. Es ist die in einem Leben gar nicht begreifbare uralte Wissenschaft der Alchemie, die auch als Goldmacherkunst bezeichnet wird. Sie, deren Ursprung sich im Dunkel uralter Zeiten verliert, war die Grundlage der Chemie und anderer Naturwissenschaften.
Dem echten Alchemisten aber, die über das alte Wissen verfügt und es richtig anzuwenden versteht, der den inneren Weg der Alchemie mit stark reduziertem Ego beschreitet, ist nicht an der Erzeugung von irdischem Gold gelegen, obwohl er es wahrscheinlich herstellen könnte.
Er verwandelt im Athanor, dem alchemistischen Ofen, der auf alten Bildern manchmal als Tempel dargestellt wird, die unedlen „niederen“ Metalle nach einem geheimen Rezept in das edelste und wertvollste von allen – das Gold.
Im Kontext unserer Reise sind die sieben niederen Metalle auf den Menschen übertragen (dem Buch Saint Germain/Myra: „Saint Germains Vermächtnis – Ein westlich-abendländischer Einweihungsweg“ entnommen):
1. Ich zuerst / 2. Trägheit des Herzens / 3. Selbstüberschätzung, oder die Unfähigkeit sich selbst zu erkennen / 4. Kritik- und Streitsucht, um sich selbst zu erhöhen / 5. Gott für die eigenen Schwächen verantwortlich zu machen /
6. Gefallsucht / 7. Eifersucht und Neid.
Ganz unten, wo es nach den Erfahrungen der Alchemisten „gärt und stinkt“, beginnt der Weg, welcher der Weg  der Läuterungen und des Aufstiegs ist, an dessen Ende das Gold steht.
Es geht in der inneren Alchemie also um die Transformation der niederen Natur des Menschen mit all seinen Schatteneigenschaften (symbolisiert durch die sieben Metalle) zur göttlichen Natur unseres Urzustandes, für den das Gold seit jeher Sinnbild ist. Und irgendwann ist dann das „Opus Magnum“, das „Große Werk“ vollbracht.
Die Alchemie wird auch als spirituelle Chemie bezeichnet, als Versöhnung und Vereinigung von Gegensätzen, als Hochzeit von Mikrokosmos und Makrokosmos, als „Chymische Hochzeit“  –  all das sind wohl zutreffende Metaphern.
Alchemie ist gewiss keine esoterische Modetorheit und auch nichts Abgehobenes. Wir erleben sie vielfältig in der Natur, z.B. ganz banal, aber recht anschaulich im Komposthaufen, in dem Abfall zu reiner Erde wird. Wir erleben sie jeden Tag, wenn unser Verdauungsfeuer im Athanor unseres Körpers die Nahrung zu Energie, also zu Lebenskraft verwandelt. Unser ganzes Sein, ja die gesamte Schöpfung könnte man als immerwährenden und sich immer weiter entwickelnden alchemistischen Prozess bezeichnen.