… aber niemand möchte alt sein – ist doch so, oder?
Um es vorweg zu sagen, es ist auf keiner Gesetzestafel festgehalten, dass wir mit all dem, was ich aus meiner Sicht hier beschreibe, warten müssen, bis wir alt geworden sind.
Eines Tages erkennen wir, dass unser Rendezvous mit dem Leben in die Zielgerade einbiegt. Spätestens dann fragen wir uns, wo sind die Jahre hin und was machen wir mit der Zeit die bleibt? Der Versuch, noch einigermaßen knusprig diese Wegstrecke zu erreichen, sollte nicht dazu verleiten, eine „Entfaltung“ mittels Botox oder „Winterspeck und Frühlingsrollen“ in Erwägung zu ziehen. Denn Botox ist ein Nervengift und Übergewicht ist auch nicht gesund. Da wir beides nicht mögen, sollten wir unsere ehrlich erworbenen Lebenslinien im Gesicht und anderswo mit Gelassenheit betrachten.
Auf ins Land der Freiheit
Rente, Ruhestand – eigentlich sollten andere Begriffe gefunden werden. Vor kurzem fragte mich unser Apotheker, ob ich die „Apotheken-Rundschau“ haben möchte. Ich lehnte dankend ab und meinte, dass ich mich bei der Lektüre immer irgendwie zehn Jahre älter fühlen würde. Ähnlich geht es mir mit dem Rentner-Begriff. Da kommt mir außerdem die Farbe „beige“ in den Sinn, aber niemals ins Haus.
Wenn man sich also, mangels eines anderen Wortes, in den Ruhestand begibt, betritt man das bunte und fast grenzenlose Land der Freiheit. Jetzt ist vieles möglich, auch wenn man vielleicht nicht alles nutzen kann oder nutzen will.
Der eine lässt es ruhig und gemütlich angehen und genießt die ersehnte Freiheit. Ein anderer mag unverdrossen bis zum Burnout in der gewohnten Hektik gefangen bleiben. Es soll aber auch Leute geben, die sich langweilen und nichts mit sich anzufangen wissen, die der griesgrämigen Ansicht sind, das Leben sei ihnen etwas schuldig geblieben. Ich meine, dass das Problem nicht das Leben ist und auch nicht das Alter, sondern unsere innere Einstellung, die Brille, durch die wir unsere Vergangenheit und Gegenwart wahrnehmen.
In den letzte Jahren kamen einige Bücher auf den Markt, deren Inhalt Gespräche mit Menschen sind, die am Ende ihres Lebensweges bedauern, sich ihre Wünsche nicht erfüllt und ihre Sehnsüchte nicht gelebt zu haben. Der schwedische Schriftsteller Hakan Nesser drückt das so aus: „Am Grabe der meisten Menschen trauert tief verschleiert ihr ungelebtes Leben.“ Diesen Schmerz eines auf „später“ verschobenen Lebens wollen wir nicht in unserem Erfahrungsrepertoire haben.
Ecken und Kanten
Hingegen wäre es weise, die „unerledigten Geschäfte“ (Elisabeth Kübler-Ross) nicht in letzter Minute oder gar nicht zu erledigen, die da sind: Verzeihen, Vergeben, Versöhnen. Was leichter gelingen könnte, wenn wir bedenken, dass auch wir selbst nicht frei sind von „Ecken und Kanten“. Es ist Zeit, mit unseren Mitmenschen gnädiger zu umzugehen, weil wir Lebenserfahrung haben und auch genug Selbsterkenntnis, um zu wissen, dass es den perfekten Menschen nicht gibt.
Die späteren Jahre sind ein Lebensabschnitt, in dem unerledigte, unverarbeitete, verdrängte „Altlasten“, verstärkt hoch kochen, die schon lange auf Erlösung warten. Wer kann von sich behaupten, er hätte keine? Es sind die psychischen und manches Mal auch physischen Verletzungen, die uns in einem frühen Stadium unseres Lebens zugefügt wurden, in dem wir uns nicht wehren konnten. Aus meiner Sicht gibt es drei Möglichkeiten, mit diesen „blinden Flecken“ zu verfahren, deren Ursachen so schmerzhaft sind, dass wir sie in die dunklen Ecken unserer Psyche verbannt haben:
1. Ich versuche, die tieferen Ursachen zu finden, um sie verarbeiten und auflösen zu können, gegebenenfalls mit Hilfe von außen.
2. Ich verdränge weiter, auch auf die Gefahr hin, dass meine Seele sie mir immer wieder und immer schmerzhafter serviert.
3. Ich suche mir einen Sündenbock, auf den ich meine Frustrationen laden kann, was gewiss die unfairste der drei Varianten ist, aber auch die nutzloseste.
Es geht also um das wichtigste Abwerfen von Ballast, das es im Leben gibt, weil es zur Gesundung des eigenen physischen und psychischen Systems dient und somit auch zur Heilung des oftmals involvierten Umfeldes, z.B. der Familie.
Man kann sich bildhaft vorstellen, die Schnüre zu durchschneiden, die einen Heißluftballon am Boden festhalten, damit er in die Leichtigkeit und Freiheit seines Daseinszwecks aufsteigen kann.
Erfahrungsschätze
Die älteren Menschen, aus deren Erfahrung und Weisheit man Nutzen ziehen könnte, werden leider mehr und mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt und oft nur als Kostenfaktoren betrachtet. Allerdings ist auch nicht unbedingt davon auszugehen, dass man am 70. Geburtstag automatisch von Altersweisheit überwältigt wird, denn manchmal kommt das Alter auch ganz alleine.
Lebensweisheit, respektive Altersweisheit ist nach meiner Definition Lebenserfahrung in Dur und Moll, die ich akzeptiere, verarbeite, schließlich in mein Leben integriere und aus der ich die für mich richtigen Schlüsse ziehe. Es ist der Weg von der Erfahrung zur Erkenntnis. Dass wir Menschen aber nicht immer bereit sind aus Erfahrungen zu lernen (im Gegensatz zu unseren Tierbrüdern), beweist die Weltgeschichte.