Der Monat, den wir gerade betreten haben, beschert uns zwei „Welttage“. Der eine ist der „Weltspartag“ am 31. Oktober, der zur Zeit wenig Sinn macht.
Der andere ist der „Welttierschutztag“ am 4. Oktober. Der macht Sinn, zumindest solange wir unsere Mitgeschöpfe noch vor uns schützen müssen. Dieser Gedenktag ist für die Tiere und zur Erinnerung an Franziskus von Assisi (Francesco), den großen Heiligen begründet worden, dessen Strahlkraft uns über die Jahrhunderte hinweg und weit über die Grenzen christlicher Konfessionen hinaus erreicht.
Als Giovanni Battista Bernardone wird er, den der Dichter Rainer Maria Rilke den „Innigsten und Liebendsten von allen“ nennt, am 24. Juni 1182 in der umbrischen Stadt Assisi als Sohn eines reichen Tuchhändlers geboren. Immer im Mittelpunkt seines Freundeskreises feiert Francesco die Nächte durch. Er ist fasziniert vom höfischen Rittertum und den Minnesängern und weiß noch nicht, dass er eines Tages auch ein Minnesänger sein wird, dessen Lieder aber nicht der zwischenmenschlichen Liebe gelten.
Im Hochmittelalter werden in Italien Städtekriege ausgetragen. Auf Grund einer Niederlage der Stadt Assisi wird Francesco als Kriegsgefangener im benachbarten feindlichen Perugia ein Jahr lang festgehalten. Kriegserfahrungen, Gefangenschaft, Krankheit und eine Begegnung mit Aussätzigen, die außerhalb der Stadtmauern von Assisi vegetieren, bewirken schließlich eine radikale Lebenswende.
Während er in der Kirche San Damiano vor dem Kreuz betet, hört er eine Stimme: „Siehst du nicht, dass mein Haus verfällt? Gehe hin und stelle es wieder her!“ Gehorsam, aber den tieferen Sinn noch nicht verstehend, beginnt er Kapellen und Kirchen in der Umgebung zu renovieren. Schließlich bricht er mit seinem Vater, der die neue Lebensweise des Sohnes nicht akzeptieren kann. Alte und neue Freunde schließen sich dem Aussteiger an, der ihnen empfiehlt: „Wenn es dir gut tut, wenn es gut für dich ist, dann komm“. Man findet sich zu einer schnell wachsenden „Community“ zusammen und lebt in Besitzlosigkeit, tätiger Nächstenliebe und Kontemplation. Es liegt ihm fern, einen Orden gründen zu wollen, der doch mit Geld, Grundbesitz und Klosterbau verbunden sein würde, denn „die ganze Welt ist unser Kloster.“
Als ein Kardinal die Bruderschaft in das kirchliche Reglement einbinden will, wehrt sich Francesco mit den Worten: „Ich will nichts mehr von den Regeln des heiligen Augustinus, des heiligen Bernhard und des heiligen Benedikt hören, der Herr hat mir gezeigt, dass ich ein neuer Narr in der Welt sein soll.“ So ist er frei, gesellschaftliche und kirchliche Normen zu sprengen und mutig, dem Ruf seiner Seele folgend, den Weg des Narren zu gehen.
Francesco war ein Kind seiner Zeit, aber auch ein Kind der Kirche, in deren geistiger Tradition er verwurzelt war. Denn eine Alternative gab es außer der lebensgefährlichen Variante des sogenannten Ketzertums nicht. Die Kirche des Hochmittelalters war unvorstellbar feudal, moralisch verrottet, alles andere als gewaltfrei und hinter der Maske der Nächstenliebe verbarg sich ein unstillbarer geistlicher und weltlicher Machthunger. Aber Francesco kämpfte nicht gegen diese Institution, denn er war kein Rebell. Er hat sie auch nicht kritisiert, sondern wollte sie durch sein eigenes radikales Beispiel zu ihrem Ursprung zurück führen.
Die Wiederbelebung menschlicher und urchristlicher Werte wie Liebe, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Feindesliebe, Einfachheit und Liebe zur Schöpfung, die der Kirche längst abhanden gekommen waren, lebte er vor wie kein zweiter.
Das einzige, wogegen er tatsächlich rebellierte und kämpfte, war seine eigene menschliche Natur. Erst gegen Ende seines Lebens hatte er Erbarmen mit „Bruder Leib“. Eine Untersuchung seiner Gebeine ergab, dass er klein, zart und unterernährt war.
Tomaso da Celano, Francescos Zeitgenosse, Ordensbruder und erster Biograf, beschrieb ihn als einen „außerordentlich redegewandten Mann mit fröhlichem Antlitz und gütigem Gesichtsausdruck“. Er bescheinigte ihm eine „gewinnende, feurige und scharfe Sprache, eine mächtige, liebliche, klare und wohlklingende Stimme“ und „Er war immer neu, immer frisch und fing immer wieder neu an“.
Besitzlosigkeit war eine zentrale Botschaft des Heiligen. Er selbst lebte diese Überzeugung mit allen Konsequenzen und forderte sie auch von seinen Mitbrüdern. Für uns heutige Menschen, die wir in dieser globalen und aus dem Ruder gelaufenen Gesellschaftsordnung leben, wird das durch seine zeitlos gültigen Worte verständlich: „Wenn wir irgendwelche Besitztümer hätten, wären uns Waffen nötig für unsere Obhut. Denn daraus entstehen Rechtsstreite und Zänkereien und dadurch wird die Gottes- und Nächstenliebe gewöhnlich vielfach verhindert. Und deshalb wollen wir in dieser Welt kein zeitliches Gut besitzen.“
Francesco ist Zeitgenosse der Kreuzzüge und schließt sich einer dieser grausamen „Morgenlandfahrten“ an. Seine Absicht ist aber nicht Jerusalem zu „befreien“ oder „Ungläubige“ zu bekehren, sondern die Kreuzfahrer von ihrem kriegerischen Vorhaben abzuhalten, da dies „gegen den Willen des Herrn“ sei, wie ihn sein Biograf zitiert. So landet er schließlich in Ägypten und trifft dort Sultan Melek al-Kamil. Die Gespräche dieser beiden Männer unterschiedlichen Glaubens finden auf Augenhöhe und wertschätzend statt. Er kehrt unverrichteter Dinge, aber mit einem Augenleiden zurück, das ihn schließlich zu fast vollständiger Blindheit führen wird.
Bruder Elias von Cortona und einige andere unter dessen Einfluss stehende Mitbrüder nutzen seine Abwesenheit für gravierende Veränderungen in der Gemeinschaft. Es geschieht nun, was er niemals wollte, aus der Bruderschaft wird ein der Kirche untergeordneter Orden, zu dessen Generaloberen sich Bruder Elias selbst ernennt.
In späteren Jahren nach Francescos Tod wird sich der Franziskaner-Orden so weit von den ursprünglichen Ideen und Werten entfernt haben, dass er sogar mehrere Inquisitoren hervorbringen wird.
Francesco zieht sich enttäuscht zurück. Im Jahr 1224 empfängt er, der so brennend und radikal in den Fußspuren seines Meisters Jesus gegangen war, auf dem Monte Averna die Wundmale. Wie in den Anfängen begibt er sich wieder auf Wanderschaft, die er aber aus gesundheitlichen Gründen abbrechen muss, denn das asketische Leben fordert seinen Tribut und „Bruder Leib“ versagt allmählich seinen Dienst.
Den Weg, den sein inneres Licht ihm wies, ging Francesco ohne Kompromisse. Nicht die geringste Macht- oder Besitzgier war in ihm. Mit beiden Beinen fest auf der Erde, berührte er mit seiner Seele den Himmel.
Sein Leben ist gut dokumentiert und in zahlreichen Büchern beschrieben. Darüber hinaus existieren unzählige Legenden (zusammengefasst in dem Buch „Fioretti“), von denen die meisten zumindest in ihrem Kern wahr sind. Denn die Mitbrüder haben bald nach seinem Heimgang ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Er selbst hinterließ Briefe, Gebete, Regeltexte für seine Brüder, ein Testament und den berühmten „Sonnengesang“, der zur Weltliteratur zählt. Ein Jahr vor seinem Tod singt er dieses poetische Loblied, in dem seine Seele jubelnd der großen Liebe zum Schöpfer und seiner Schöpfung Ausdruck verleiht. Die vorletzte Strophe über „Schwester Tod“ verfasst er, als er das Ende nahen fühlt.
Er diktiert sein geistiges Testament, mit dem er die Mitbrüder ermuntern will, wieder zu den Anfängen der Gemeinschaft zurückzukehren. Mit eigener Hand und letzter Kraft schreibt er einen Segen für Bruder Leo, der ihm sein Nächster ist. Dieser Text ist in der Originalhandschrift des Heiligen zusammen mit seiner Mönchskutte in Assisi aufbewahrt.
Der 44-jährige Francesco möchte zum Sterben in die Kapelle Portiuncola gebracht werden, wo er am Abend des 3. Oktober 1226 von „Schwester Tod“ umarmt wird. Schon zwei Jahre später umarmt ihn die Kirche auf ihre Weise und macht aus dem Bruder alles Lebendigen den Ordensgründer (der er nie war und nie sein wollte) und katholischen Heiligen Franziskus von Assisi. Der Kapelle Portiuncola, die er renoviert und geliebt hat und auf deren Boden er gestorben ist, wird die große Basilika Santa Maria degli Angeli übergestülpt. Das mag als Symbol für die kirchliche Vereinnahmung des franziskanischen Geistes gelten.
Franziskus heute
Wir sprechen einzelne Gebäude, Orte und Menschen heilig und haben vergessen, dass alles Geschaffene heilig ist – unser Planet und seine Geschöpfe, das Universum mit allem, was in ihm existiert. Francesco hat nicht zwischen „profan“ und „heilig“ unterschieden, denn er wusste, dass es diese Trennung nicht gibt: „Er freute sich an allen Werken von der Hand des Herrn und sah hinter dem schönen Antlitz der Dinge ihre lebensspendende Aufgabe und ihren Zweck. In schönen Dingen erkannte er die Schönheit selbst. Alle Dinge betrachtete er als gut.“ (Tomaso da Celano)
Von allen vermeintlichen oder tatsächlichen Heiligen ist Franziskus der einzige, den ich mir als unseren Zeitgenossen vorstellen kann, ohne meine Fantasie bemühen zu müssen. Denn er ist keine weltferne geistliche Ikone, sondern ein moderner Heiliger, der „immer neu und immer frisch“ war und das auch heute noch ist. Deshalb mache ich mir Gedanken, welche Lebensaufgabe er, der sich als Teil der Schöpfung gewusst hat, gewählt hätte, wenn er heute unter uns leben würde. Wäre er Gründer einer Umweltorganisation oder ein Bücher schreibender Gärtner, der mit Naturwesen kommuniziert? Würde er einen Gnadenhof für Tiere betreiben, als Sozialarbeiter mit obdachlosen Menschen auf der Straße leben, Versuchstiere befreien, Menschen aus dem Mittelmeer retten oder in die Slums dieser Welt gehen? Wir wissen es nicht, aber wohl würde er mitten unter uns seine Aufgabe leben und die Tiere, ja die gesamte Schöpfung mit einbeziehen in seine überströmende Liebe und Fürsorge.
Der „Poverello“ (der Arme), wie Francesco auch genannt wurde, hatte eine sehr persönliche Beziehung zu Gott und seiner Schöpfung. Würden wir als Menschheit uns diese Einstellung, diese bedingungslose Liebe zu eigen machen, wäre das wahrscheinlich der Schlüssel zur Heilung und Lösung unserer Probleme.
So verwundert es nicht, das Franziskus auch nach bald 800 Jahren und besonders auf junge Menschen eine große Anziehung ausübt. Sie fühlen sich vom „Innigsten und Liebendsten von allen“ verstanden in ihrer Angst vor der Zukunft auf einer zerstörten Erde und den Abgründen einer außer Rand und Band geratenen kranken, sinnlosen, lebensfeindlichen und schamlosen Welt(un)ordnung.
„Siehst du nicht, dass mein Haus verfällt? Gehe hin und stelle es wieder her!“ Entsprechend unserer heutigen Situation dürfen wir das „Haus“ als unseren Heimatplaneten betrachten. Und diese Worte, die Jesus an Francesco gerichtet hat und die aus einer vergangenen Epoche unserer Geschichte zu uns herüber klingen, können wir als aktuelle, direkt an uns gerichtete Aufforderung verstehen.
Unser Planet könnte gut ohne uns, wir aber nicht ohne ihn. Hoffnung auf eine erneuerte Erde, auf deren Bühne die Liebe die Hauptrolle spielt.
Mit seiner „klaren und wohlklingenden“ Stimme erreicht uns Francescos Gebet der Geborgenheit und des Vertrauens:
„Herr, in Deinen Armen bin ich sicher.
Wenn Du mich hältst, habe ich nichts zu fürchten.
Ich weiß nichts von der Zukunft,
aber ich vertraue auf Dich.“
Es existiert ein Porträt des Heiligen, das zu seinem Lebzeiten entstand. Leider ist es nicht möglich, es in den Text zu integrieren. Ihr findet es, wenn Ihr „Franziskus von Assisi“ googelt – es ist das erste Bild auf der rechten Seite.