Das Leben bemerken

Der Herbst ist die Zeit für tiefere Gedanken und Gefühle. Wir alle kennen es:
In Lebensstunden mit Tiefgang kommen uns manchmal Fragen in den Sinn, wie „was ist das Leben, was ist sein Sinn, woher kommen wir, warum sind wir hier, wohin gehen wir?“
Dessen ungeachtet führen die meisten Menschen eigentlich drei Leben parallel. Das eine absolvieren wir mehr oder weniger unlustig und nennen es Alltag. In ihm gibt es abwechselnd Langeweile, Freude und Leid. Das Leid speist sich häufig aus Gefühlen des Mangels, weil wir uns nicht genug geliebt, erkannt oder geachtet fühlen. Deshalb pflegen wir sorgsam ein zweites, nicht reales, in die Zukunft verschobenes „Leben“, das man auch als Hoffnung, Flucht oder Luftschloss bezeichnen könnte. In diesem Luftschloss werde ich eines Tages reich, erfolgreich und berühmt sein, die große Liebe finden oder erleuchtet sein. Das dritte Leben ist das längst abgelebte einer Vergangenheit, an der wir innig festhalten, weil sie mit ihrem Kummer und unaufgelöstem Schmerz so schwer loszulassen ist.
So aber versäumen wir wartend und träumend das Wesentliche, das Jetzt. Wir merken nicht, dass das Leben uns jeden Tag und jeden Augenblick Möglichkeiten, Erfahrungen, Erlebnisse, Begegnungen und Glück schenken möchte. Die französische Schriftstellerin Colette resümierte gegen Ende ihres Lebens: „Was für ein herrliches Leben hatte ich. Ich wünschte nur, ich hätte es früher bemerkt.“
So neigen wir dazu, uns aus dem oft vermeintlich grauen Alltag in eine vielversprechende Zukunft zu flüchten, aber vor lauter Klammern an die Vergangenheit und Hoffnung auf die Zukunft verpassen wir die Gegenwart, das einzige was real ist und wirklich zählt. Denn lebendiges Leben ist nur der gegenwärtige Augenblick.
Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich Ziele und Träume für falsch hielte, ganz im Gegenteil, denn sie gehören untrennbar zum Menschsein und sind wichtige Motoren für Entwicklung und Kreativität. Aber es geht um die Energie, die man den Dingen gibt. Das heißt, wenn man die Energie aus der Gegenwart, aus dem Jetzt nimmt und sie hauptsächlich in die Zukunft oder Vergangenheit leitet  –  letztere hat einen besonders starken Sog  –  dann werden wir unser Leben versäumen und am Ende das nicht Gelebte bedauern. So wie das zahlreiche an ihrem Lebensende interviewte Menschen bestätigt haben.

Wir können uns nicht immer aussuchen, was wir erleben, aber es ist allein unsere Entscheidung, wie wir den Geschehnissen begegnen. Wir haben die Wahl, unser Leben zu erleiden, uns als vermeintliches Opfer hilflos ausgeliefert zu fühlen und andere Menschen oder Gott verantwortlich zu machen, oder wir können uns als „Herren“ über unser Leben begreifen. Damit meine ich, dass wir z.B. aus Krankheiten und anderen sogenannten „Schicksalsschlägen“ Nutzen ziehen können. Vielen Menschen schenkt erst eine Krankheit die Zeit inne zu halten und vielleicht zum ersten Mal über ihr Leben konstruktiv nachzudenken. Solche Erfahrungen bergen Gelegenheiten, dem Leben mehr Tiefe zu verleihen, ihm eine neue Richtung zu geben und sich gegebenenfalls von Dingen und Menschen zu trennen, die nicht mehr ins Leben passen und nicht gut tun.

Es ist wichtig, dass jeder von uns sein eigenes Leben „bemerkt“ (Colette), entdeckt und lebt und nicht versucht, alte Erwartungen der Eltern oder ungesunde gesellschaftliche Normen zu erfüllen, um letztere auch noch zu festigen.
Selbstliebe, die man auch als konstruktive Ichbezogenheit bezeichnen könnte  –  nicht zu verwechseln mit Egoismus, Egozentrik oder gar Narzissmus  –  ist dringend und im Wortsinn notwendig. Was macht mich glücklich und zufrieden? Was erfüllt mich? Welche Bedürfnisse habe ich? Wie möchte ich gerne leben? Das sind entscheidende Fragen. Wenn mir diese Selbstliebe gelingt, die als Zufriedenheit und innerer Friede spürbar ist, dann werde ich auch in der Lage sein, in positivem Sinn die Not von Mitmenschen wahrzunehmen, ohne in untätigem Mitleid zu versinken.

Man stelle sich eine Welt vor, überwiegend mit Menschen, die ihren inneren Frieden gefunden haben und deshalb zu“frieden“, glücklich und engagiert sind. Es würde nicht lange dauern und es gäbe keine Not mehr in unserer Welt. Weil wir nicht mehr manipulierbar wären, würden Hunger und Kriege verschwinden und auch der Krieg, den wir gegen unseren Heimatplaneten führen, der unsere Lebensgrundlage ist.
Vielleicht empfindet mancher Leser meine Welt- und Lebenssicht als zu simpel oder naiv, aber es ist machbar und letztlich überlebensnotwendig.
Mahatma Ghandi, der mit seinem Leben und Wirken gewaltlos das britische Weltreich bezwungen und damit Indien die Freiheit geschenkt hat, kann sicher nicht als naiv gelten: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“
Folgen wir dem, was unser Herz uns gebietet und wärmen wir mit der Liebe, die wir in unserem Innersten sind, diese Welt, die sich uns so kalt und traurig präsentiert.
Ich meine, dafür sind wir hier und das ist der Sinn des Lebens.

„Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden.“  (Marc Twain)