Wir leben in einer Zeit, die Traditionen auf dem Prüfstand stellt. Dazu gehören auch Religionen und ihre Inhalte. Die ursprünglichen spirituellen Lehren sollten aber nicht mit jenen auf eine Stufe gestellt werden, die sie verfälschen, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen.
In ihrem Ursprung Weisheit und Liebe, scheinen sich manche Religionen mit diesen Qualitäten schwer zu tun. Sie erinnern an eine Quelle, die zum Fluss anschwillt, der im Laufe der Zeit immer trüber wird, bis die ursprüngliche Reinheit nicht mehr erkennbar ist. Jede Religion aber sollte, was ihre Aufgabe wäre, nur die eine wahre Geschichte erzählen – die Liebe zwischen dem göttlichen Ursprung und allem Lebendigen. In ihr ist alles enthalten.
Die meisten institutionalisierten Religionen sind menschliche Schöpfungen, die oftmals ein eher trauriges und abergläubisches Bild vermitteln. Ich beziehe mich hier auf die christliche Kirche, weil sie unseren Kulturkreis betrifft. Sie ist im 4. Jahrhundert aus dem Urchristentum des ersten Jahrhunderts als Institution entstanden. Im Laufe der 2000 Jahre ihrer Existenz hat sie sich immer weiter von ihrem Ursprung entfernt und bietet seitdem ein teilweise erbärmliches Bild. Sie kämpft um den Erhalt ihres Machtsystems. Obwohl dieser Kirche die Mitglieder in Scharen davon laufen, ist kein grundlegender Reformwille erkennbar, was auf einen Realitätsverlust hindeutet, der wiederum autokratischen Systemen eigen ist. Und so geht der im Zeitalter der Aufklärung (18. Jhdt.) entstandene westliche Atheismus auch auf das Konto dieser religiösen Institution.
Ein zu allen Zeiten gültiges spirituelles Urwissen durchzieht wie ein unterirdischer Fluss alle Religionen. Und so enthalten sie alle Partikel dieser Urweisheit. Diese auch in jedem von uns verborgene Weisheit bedient sich verschiedener Gewänder, die wenn sie strukturiert und formalisiert werden, sich als Religionen bezeichnen. Ihre Aufgabe wäre, Verkünder eines unermesslichen geistigen Universums zu sein. Dankenswerterweise wurde das alte Wissen durch die echten esoterischen (was nichts mit der „Lifestyle-Esoterik“ unserer Tage zu tun hat) und mystischen Strömungen bewahrt und Mystiker und Erleuchtete aller Zeiten und Religionen haben es erhalten und weiter getragen, häufig unter Einsatz ihres Lebens.
Einweihung in den eigenen Lebensweg
Alle unsere Existenzen in einem physischen Körper können wir als Einweihungsweg bezeichnen, der uns in Geist und Seele geschrieben ist. Ausgehend von der Quelle, die unsere Urheimat ist, führt er uns entsprechend dem biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn, wieder zu ihr zurück.
Einweihung ist wie das Starten eines Motors und bedeutet die Öffnung gegenüber unserem ganz persönlichen Lichtweg. Er mag immer wieder durch dunkle Täler führen, weil wir auch dort Erfahrungen sammeln wollen. Wir wissen, dass es ohne Täler keine Berge gibt. So wird die Sehnsucht nach dem Licht erst entstehen, wenn wir uns wieder einmal in der Dunkelheit meinen. Aber „Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt.“ (Hermann Hesse). Wollen wir unseren Einweihungsweg bewusst annehmen, dann sollten wir bereit sein, unser gewohntes alltägliches Leben immer wieder in Frage zu stellen. Einweihung aber bedeutet nicht Erleuchtung. Sie geschieht nicht durch religiöse Rituale oder Prüfungen. Einweihung ist das Zusammenführen, die Integration aller unserer bisherigen Lebenserfahrungen, die uns erkennen lassen, dass unser Lebensweg immer in Richtung Ziel führt.
Wenn ich mir ein Etikett aufkleben müsste, würde ich mich im Sinne dieses Artikels als religionslose Urchristin bezeichnen, die sich zum ursprünglichen unverfälschten Christentum hingezogen fühlt. Heute blicke ich auf einen weiten Lebensbogen spiritueller Erfahrung zurück. Ich war auf der Suche nach der perfekten, für mich „maßgeschneiderten“ Religion, die ich im Außen nicht gefunden habe. Aber mit Hilfe dreier wunderbarer geistiger Lehrer durfte ich den roten Faden entdecken, der sich durch die Religionen zieht und sie alle auf einer tieferen Ebene verbindet. Es ist die erwähnte Urweisheit aus unserer Quelle, die mich dem Ursprung meiner eigenen christlichen Wurzeln wieder nahe brachte. Sie ist mit den Botschaften aller großen Weisheitslehrer der Menschheit identisch – Jesus, Buddha, Krishna, Meister Eckhart und viele andere, auch in unserer Zeit. Sie alle haben kein Interesse daran, dass wir an sie glauben, aber sie möchten, dass wir ihnen glauben.
Religion als Navigationshilfe
Die beiden östlichen Religionen Buddhismus und der philosophische Hinduismus sind ihren Wurzeln noch nahe. Auf der Grundlage ihrer heiligen Schriften sind sie Navigationssysteme ohne Machtanspruch, denn sie verfügen vernünftigerweise über keinen „Vatikan“.
Das Christentum war in seinem Ursprung auch eine solche Wegweisung und die Lehre des Jesus eine Synthese des großen Wissens und der Weisheit. Leider hat der „alleinseligmachende“ Anspruch der Kirche mit ihren teilweise recht merkwürdigen Interpretationen eines sehr kleinen Ausschnittes der ursprünglichen Lehre diese Religion auf ein recht niedriges Niveau gebracht. Um es klar zu sagen, vieles von dem, was Jesus die Seinen lehrte, ist ins Gegenteil verkehrt worden. Es wurde über die Jahrhunderte hinweg gefälscht, gelogen und betrogen.
Aber auch andere Religionen haben sich von ihren Ursprüngen entfernt, sind in Buchstaben erstarrt und nicht der Mensch und das Leben stehen im Mittelpunkt, sondern Dogmen und sinnentleerte Glaubenssätze, welche die Gläubigen in ein nur wenig Freiheit gewährendes Korsett zwängen. Es ist aber nicht der Mensch für die Religion geschaffen, sondern die Religion für den Menschen, die für ihre Anhänger ein verlässlicher Wanderstab auf dem Weg sein sollte.
In Herz und Geist reif geworden werden wir eines Tages das Navigationssystem Religion nicht mehr benötigen. Wir sind dann dankbar für den Halt, den es uns gegeben haben mag, aber nun gehen wir aus eigener Kraft weiter. Die neue Wegweisung erhalten wir von unserer leisen inneren Stimme, dem Lehrer in uns, der reiner Geist ist und als „Hohes Selbst“ bekannt. Es ist nicht ein höheres Selbst, wie es auch genannt wird, sondern das Höchste, denn es ist unsere Essenz, der Geist Gottes in uns, weise, all-wissend und
all- liebend. Wir verbinden uns mit ihm und werden erleben, dass er die direkte Straße zum Göttlichen ist.
Zu diesem Entwicklungsweg gehört auch, dass wir uns kein Bild mehr von Gott machen, sondern daran wirken, in unserem tiefsten Inneren zu einem Bild Gottes zu werden. Das ist die Essenz der Lehre des Buddha, die wiederum identisch ist mit dem, was Jesus die Seinen lehrte. Im Westen wird der Buddhismus oftmals als atheistische Religion wahrgenommen, was an sich schon ein Widerspruch ist. Er ist keineswegs ein gottloser Weg, sondern er verfügt über ein anderes, ein unpersönliches Gottesbild, welches nicht vergleichbar ist mit unserem „lieben Gott“, der nicht immer „lieb“ ist und der wiederum nichts zu tun hat mit dem, den Jesus seinen Anhängern vermittelte.
Als vor 2500 Jahren der Inder Gautama Siddharta gefragt wurde, ob er ein Heiliger, ein Engel oder gar ein Gott sei, antwortete er: „Ich bin erwacht“. Da wurde er zum Buddha, was „der Erwachte“ bedeutet. Aus welchem Schlaf, aus welchem Traum ist er, meditierend unter dem Bodhibaum, erwacht? Aus dem sich sehr realistisch anfühlenden Traum, den wir unser Leben nennen, hin zu einer Wirklichkeit, die größer und vollkommener ist, als wir „Träumende“ sie uns vorstellen können. Man bezeichnet das Erwachen auch als Erleuchtung oder Kosmisches Bewusstsein. Es kommt aber nicht von außen auf uns zu, sondern erhält die Initialzündung von innen, aus der Kraft der Seele und des Geistes. Daher ist absichtslos zu leben, auch das lehrt Buddha, einer der Wege zum Entfachen des inneren Lichtes.
„Vom Untertan zum freien Geist“ wird eine Fortsetzung und der Titel meines nächsten Blogartikels sein.